S
ie sahen die kleine Gestalt den Weg in die Schlucht hinunterlaufen.»Wartet doch auf mich, bitte wartet doch …« Die Stimme versagte. »Mir geht’s nicht gut. Ich kann nicht rennen. Ich kann nicht … kann nicht …«
»Pipkin!« riefen alle und winkten ihm vom Rand
der Schlucht.
Er war so klein, so klein. Überall bewegten sich Schatten.
Fledermäuse flatterten vorbei. Eulen schrien. Nachtraben sammelten
sich auf den Bäumen wie schwarze Blätter.
Der kleine Junge mit seiner Kürbislaterne fiel zu Boden.
»Oh«, keuchte Downground.
Das Licht im Kürbis erlosch.
»Oh«, keuchten alle.
»Mach das Licht wieder an, Pip, mach es wieder an!« schrie
Tom.
Er glaubte erkennen zu können, wie die kleine Gestalt im dunklen
Gras dort unten umherkroch und versuchte, ein Streichholz
anzuzünden. Doch in diesem Augenblick der Dunkelheit brach die
Nacht herein. Eine große Schwinge legte sich über die Schlucht.
Viele Eulen schrien. Viele Mäuse trippelten raschelnd in den
Schatten. Irgendwo wurden Millionen kleiner Wesen
umgebracht.
»Mach deine Laterne an, Pip!«
»Hilfe …« rief er klagend, mit trauriger Stimme.
Tausend Flügel flogen davon. Irgendwo schlug ein großes Tier die
Luft wie eine donnernde Trommel.
Die Wolken wurden beiseite gezogen wie dünne Vorhänge und gaben den
Blick auf einen klaren Himmel frei. Dort stand wie ein großes Auge
der Mond.
Er sah hinab auf …
… einen leeren Pfad.
Pipkin war nirgends zu sehen.
Weit entfernt, fast schon am Horizont, zappelte und tanzte und
taumelte etwas Dunkles durch die kalte Sternenluft davon.
»Hilfe … Hilfe …« klagte eine schwächer werdende Stimme.
Dann war alles still.
»O je«, sagte Mr. Downground traurig, »das ist schlimm. Ich
fürchte, etwas hat ihn mitgenommen.«
»Aber wohin, wohin denn nur?« riefen die Jungen durcheinander.
Ihnen war kalt.
»In das Unbekannte Land. In das Land, das ich euch zeigen wollte.
Aber jetzt …«
»Sie meinen, das Ding in der Schlucht – Es oder Er oder was auch
immer, dieses Etwas war … der Tod? Er hat Pipkin geholt?«
»Er hat ihn wahrscheinlich bloß mitgenommen, um ein Lösegeld zu
erpressen«, sagte Downground. »Das kann der Tod?«
»Manchmal, ja.«
»Mist!« Tom spürte, daß seine Augen sich mit Tränen füllten. »Pip
war heute abend so schwach und blaß. Ach, Pip, du hättest nicht
rauskommen sollen!« rief er zum Himmel hinauf, doch dort waren nur
Luft und weiße Wolken, die wie alte Geisterfetzen dahinsegelten,
und ein klarer Fluß aus Wind.
Frierend und zitternd standen sie da und sahen in die Richtung, in
der das dunkle Etwas, das ihren Freund entführt hatte, verschwunden
war.
»Aber«, sagte Downground, »das ist nur ein Grund mehr mitzukommen,
Jungs. Wenn wir schnell fliegen, können wir Pipkin vielleicht noch
einholen. Seine süße Halloween-Zuckermais-Seele packen. Ihn
zurückbringen, ins Bett stecken, ihn mollig warm zudecken und seine
Kräfte schonen. Was meint ihr, Jungs? Wollt ihr zwei Geheimnisse
auf einmal erforschen? Euren verschwundenen Freund Pipkin suchen
und das Rätsel um Halloween lösen – alles auf einen grimmigen,
dunklen Streich?«
Sie dachten an die Halloween-Nacht und die unzähligen Seelen, die
durch kalten Wind und seltsame Rauchschwaden auf einsamen Straßen
umherirrten.
Sie dachten an Pipkin, der ja bloß ein Fingerhutvoll kleiner Junge
und reine Sommerlebensfreude war und der wie ein Zahn
herausgerissen und auf einer dunklen Welle aus Spinnweben und Horn
und schwarzem Ruß davongetragen worden war.
Und sie murmelten fast wie aus einem Munde: »Ja.«
Downground sprang auf. Er rannte. Er trieb sie an, er schob sie, er
sprudelte die Worte hervor. »Schnell jetzt, diesen Weg entlang,
diesen Hügel hinauf, diese Straße hinunter! Da – die verlassene
Farm! Über den Zaun! Allez hopp!«
Sie sprangen in vollem Lauf über den Zaun und blieben vor einer
Scheune stehen, die über und über mit alten Zirkusplakaten bedeckt
war, mit Spruchbändern, die der Wind vor dreißig, vierzig, fünfzig
Jahren hier angeschlagen hatte. Durchreisende Zirkusse hatten eine
fünfundzwanzig Zentimeter dicke Schicht von Spuren
hinterlassen.
»Einen Drachen, Jungs! Baut einen Drachen! Schnell!«